von Dr. Clelia Caruso
Inzwischen liegt die dritte Ausgabe der „G-Öff“, der online-Zeitschrift des Masterstudiengangs Geschichte und Öffentlichkeit an der Universität Kassel, vor! Auch dieses Mal wartet die Publikation wieder mit einem Themenschwerpunkt auf: Es geht um einen besonderen Fall internationaler Migration, der organisierten Verschickung von British Home Children nach Übersee. Im Rahmen von organisierten Kinderauswanderungsprogrammen wurden britische Heimkinder von nationalen Kinderhilfswerken wie Barnardos und später spezialisierten Agenturen wie der Fairbridge Society in britische Dominions und Kolonien umgesiedelt. Zwischen den 1870er und 1940er Jahren kamen im Rahmen dieser Kinderverschickungsprogramme vermutlich um die 100.000 Kinder aus Großbritannien allein nach Kanada.
Die Kinder stammten in der Regel aus sozial benachteiligten Verhältnissen. Einige waren Waisen. In vielen Fällen jedoch hatten die Eltern oder ein Elternteil die Kinder während einer finanziellen Notlage in die Obhut von Wohltätigkeitsorganisationen gegeben. Sie stimmten dann der Entsendung der Kinder nach Übersee zu, in dem Glauben, den Kindern böte sich in einer vielversprechenden neuen Umgebung die Chance auf einen Weg aus der Armut. Oftmals wurden die Angehörigen aber auch erst im Nachhinein über den Verbleib der Kinder informiert. In Kanada wurden die meisten britischen Heimkinder nach einem mehr oder weniger langen Aufenthalt in Heimen auf Farmen aufgenommen, wo sie meist zu schlecht bis gar nicht entlohnten Arbeitskräften wurden. Die zugesagte Ausbildung wurde vielen verwehrt. Stattdessen leisteten sie schwerste Arbeit und Tausende Kinder und Jugendliche erlitten schweren und anhaltenden Missbrauch. Die in dieser Ausgabe der „G-Öff“ publizierten Beiträge bauen auf den Migrations- und weiteren Lebenserfahrungen solcher Kinder auf. Diese wurden im Rahmen des Seminars „Writing Migrant Biographies“ rekonstruiert aus der online verfügbaren Dokumentation der Migrationsvorgänge, der ebenso zugänglichen Überlieferung der beteiligten Organisationen und einzelner Akteure sowie schließlich aus publizierten Ego-Dokumenten der Heimkinder. Die sorgfältig recherchierten Texte nutzen die Perspektive der ehemaligen Heimkinder um, trotz der nicht ganz vermeidbaren erzählerischen Fallstricke der rückblickenden Autobiografie als Genre, überzeugende historische Narrative zu entwickeln, die dem Erfahrungshorizont der Kinder gerecht werden.
In einem fiktiv-biographischen Text, in dem sie mit verschiedenen Erzählperspektiven operiert, vollzieht Elisabeth Volland verschiedene Lebensabschnitte aus dem Leben des fiktiven Heimkindes Proktor nach. In einem als Briefwechsel konzipierten Ausschnitt lässt sie für die „G-Öff“ ihre Hauptfigur in rückblickenden Frontbriefen an seine Verlobte seine Vergangenheit als Home Child und Farmarbeiter im ländlichen Kanada des frühen 19. Jahrhunderts rekonstruieren. Karolin Scholz hat hingegen die Tagebuchform gewählt, um einen in den 1940er Jahren einsetzenden Lebensbericht des fiktiven Heimkindes Audrey zu verfassen. Veröffentlicht werden hier drei von der Autorin ausgewählte und knapp kontextualisierte Tagebucheinträge, in denen uns Audrey vor allem Migrationserfahrungen und Erfahrungen aus dem Heimalltag der British Home Children vermittelt.
Abgerundet wird die „G-Öff“ auch diesmal durch Berichte jenseits des thematischen Schwerpunktes: In der Rubrik „Aktuelle Abschlussarbeiten“ werden wir über die Masterarbeit von Kirsten Bänfer informiert. Sie rekonstruiert darin auf der Grundlage von Beschwerdebriefen und Zeitzeugenberichten sowie von Verwaltungs- und Personalakten lange übersehene Gewaltstrukturen im Kinderkurheim Reinhardshausen zwischen 1945 und 1976. Und schließlich geben uns Jorias Bach und Marlen Wernecke Einblicke in diesjährige Exkursionen: Jorias Bach schildert seine Eindrücke von der Exkursion zur Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und Marlen Wernecke berichtet über die studentische Archivarbeit in der Frankreich-Bibliothek des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg.
Und noch ein wichtiger Hinweis zum Schluss: Für Mitarbeit und Anregungen ist die Redaktion jeder Zeit offen! Und mir bleibt nun nur noch, viel Spaß bei der Lektüre zu wünschen!
