Medien, Gewalt
und Öffentlichkeit
Content
- Editorial
- „Ich dachte, ich bin in der Hölle!“ – Das Mädchenjugendheim Fuldatal
- Freund und Gehilfe. „Alte Kameraden“ vor Gericht
- Aktuelle Abschlussarbeiten
- Historians on Air: Die extreme Rechte in Kassel
- Berichte und Ankündigungen
Editorial
von Prof. Dr. Jörg Requate
Willkommen zur ersten Ausgabe der G-Öff, der online-Zeitschrift des Masterstudiengangs Geschichte und Öffentlichkeitan der Universität Kassel! Nach einiger Vorbereitungszeit freuen wir uns, die erste Ausgabe der Zeitschrift nun präsentieren zu können, die sich um den Themenschwerpunkt „Medien, Gewalt und Öffentlichkeit“ dreht.
Kirsten Bänfer schreibt hier über die Zustände in dem Mädchenjugendheim Fuldatal, in dem sogenannte schwererziehbare Mädchen bis in die 1970er Jahre immer wieder Gewalterfahrungen ausgesetzt waren – Missstände, die erst vor einigen Jahren an die Öffentlichkeit gelangt sind, da Medien nur sehr zögerlich bereit waren, Opfern eine Stimme zu geben. Flemming Menges befasst sich mit der gescheiterten juristischen Aufarbeitung der von den Polizeibataillonen begangenen NS-Gewaltverbrechen. Obwohl vielfältig in Verbrechen verstrickt, war es der Polizei gelungen, sich in der Öffentlichkeit ein weitgehend unbelastetes Image zu verschaffen. Das Ringen um die Erkenntnis, dass die NS-Verbrechen eben nicht nur von Angehörigen der SS, sondern auch anderen, wie etwa Angehörigen der Wehrmacht und der Polizei begangen worden waren, war ein langer und immer noch andauernder Prozess. Beide Beiträge sind im Rahmen des Seminars zum journalistischen Schreiben entstanden.
Mit der Langlebigkeit nationalsozialistischen Gedankenguts und deren Überleben in einer Art geschützten Öffentlichkeit befasst sich ebenfalls der Podcast-Beitrag von Philipp Misoch. Er zeigt, wie eine Kasseler Verlagsbuchhandlung über eine Reihe von Verzweigungen von der Weimarer Republik bis in die jüngste Vergangenheit in unterschiedlicher Weise ein Kristallisationspunkt für die Verbreitung von NS-Schriften wurde. Der Podcast entstand in einem Seminar zur extremen Rechten in Kassel.
In der Rubrik „Aktuelle Masterarbeiten“ stellt Dominik Reeg die Ergebnisse seiner Untersuchungen zum Umgang mit Psychiatriepatienten in dem Landeshospital Haina zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor. Über eine Exkursion mit Studierenden der Geschichte und der Romanistik nach Verdun schreiben Marlen Wernecke und Jorias Bach in der Rubrik „Berichte“.
Abgerundet wird das Heft durch ein Interview, das Studierende des Masterstudiengangs mit Stefan Raue, dem Intendanten des Deutschlandradios geführt haben. Herr Raue, der selbst Geschichte und Germanistik studiert hat, war Gast in dem Seminar zum journalistischen Schreiben und gibt hier zum einen Auskunft, welche Kompetenzen, Fähigkeiten und Erfahrungen für den Weg in den Journalismus hilfreich sind. Zum anderen spricht er über Entwicklungen der Medien und nicht zuletzt über die Frage des journalistischen Umgangs mit Rechtsextremismus. In der Reihe der Interviews sollen in Zukunft immer wieder Gespräche mit Personen aus verschiedenen Praxisfeldern geführt werden. Die Verbindung von Geschichte und Öffentlichkeit wird hier in besonderem Maße greifbar. Es wird wiederkehrend um unterschiedliche Praxisfelder für Historiker:innen und die Frage danach gehen, welche Wege dorthin führen. Da diese Interviews damit oft einen sehr praktischen Zweck erfüllen, werden sie auf der Seite der G-Öff zusätzlich in einer separaten Rubrik verfügbar sein.
Last but not least: Für Mitarbeit und Anregungen ist die Redaktion jeder Zeit offen!
Nun viel Spaß bei der Lektüre!
„Ich dachte, ich bin in der Hölle!“
Das Mädchenjugendheim Fuldatal
von Kirsten Bänfer
Sie wurden eingesperrt, unterdrückt und misshandelt. Über Tausend Mädchen und junge Frauen waren zwischen 1952 und 1973 im nordhessischen Guxhagen in einem geschlossenen Heim für sogenannte schwer erziehbare Mädchen untergebracht. Dort waren sie einer von Autorität und Zwängen geprägten Erziehung ausgesetzt, dessen Folgen bis heute nachwirken. Denn für die Mädchen und jungen Frauen war es die Hölle auf Erden.


Freund und Gehilfe
„Alte Kameraden“ vor Gericht. Die gescheiterte juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Polizeibataillone
von Flemming Menges
Eindeutiger Erkenntnisse über die Massenverbrechen der deutschen Polizeibataillone während des Vernichtungskrieges im Osten zum Trotz blieben ihre Angehörigen lange Zeit unbehelligt von der Strafverfolgung. In den 1960er Jahren drohte die Verjährung, doch der Ahndungsdruck erhöhte sich. Legendenbildung, polizeiinterne Kameradenhilfe und die gesellschaftliche „Schlussstrichmentalität“ erschwerten die juristische Aufarbeitung, wie der Fall des Polizeibataillons 309 zeigt.
Aktuelle Abschlussarbeiten

Die progressive Paralyse und ihre Folgen um 1900
Masterarbeit untersucht die Lebenswege unheilbarer Psychiatriepatienten anhand von historischen Krankenakten aus dem Landeshospital Haina
Dominik Reeg |
Dominik Reeg absolvierte sowohl sein Bachelor- (Geschichte/Germanistik) als auch sein Masterstudium (Geschichte und Öffentlichkeit) an der Universität Kassel. Aktuell ist er am Fachgebiet der Neueren und Neuesten Geschichte als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt. Sein primäres Forschungsinteresse liegt in der Psychiatriegeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. |
„Pat[ient] leidet an progressiver Paralyse. Es ist daher keine Aussicht auf Heilung vorhanden.“ Diese Worte aus dem Gutachten eines Arztes der Landesheilanstalt Marburg aus dem Jahr 1906 sollten für den hier als Patient bezeichneten 54-jährigen Monteur Karl H. weitreichende Folgen haben. Ebendiese wurden im Rahmen einer Masterarbeit anhand von Patientenakten aus dem Landeshospital Haina untersucht. Ziel der Arbeit war es, sowohl die ärztliche Beschreibung einer in der Geschichtswissenschaft bisher vernachlässigten Krankheit zu beleuchten als auch die Lebenswege von vier Patienten exemplarisch nachzuzeichnen.
Die progressive Paralyse war ein in psychiatrischen Anstalten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts häufig anzutreffendes Krankheitsbild. Zurückzuführen war dieses, wie 1913 nachgewiesen werden konnte, auf eine nicht ausgeheilte Infektion mit der Geschlechtskrankheit Syphilis. Diese Neurosyphilis (Manifestation des Erregers im Gehirn des Kranken) konnte einige Jahre oder sogar Jahrzehnte nach der eigentlichen Ansteckung auftreten. Mit ihrer diffusen Symptomatik, die sich auch in den untersuchten Akten mehrheitlich aus Größenwahn, einer stetig voranschreitenden Demenz und der allmählichen vollständigen körperlichen Lähmung zusammensetzte, stellte die Krankheit die Psychiatrie auch aus praktischer Sicht vor große Schwierigkeiten. Denn die Krankheit galt nicht als therapier- oder heilbar und endete in der Regel mit dem Tod.
Die Diagnose der Unheilbarkeit stellte dabei am konkreten Fall nicht nur eine ärztliche Prognose dar, sondern legte auch den weiteren Lebensweg der Kranken fest. An diesem Punkt konnte entweder die Entlassung des Kranken oder die Aufnahme in eine Pflegeeinrichtung erfolgen. Letzteres trat für den erwähnten Karl H. ein. Er wurde in das auf psychiatrische Langzeitpatienten männlichen Geschlechts ausgelegte Landeshospital Haina verlegt, da „er sich selbst und anderen gefährlich werden“ könne. H. sollte Haina nicht wieder verlassen und starb dort nur wenige Monate nach seiner Aufnahme im Jahr 1907.
Dominik Reeg konnte in seiner Arbeit zeigen, dass dieser exemplarisch vorgestellte Lebensweg bei Paralytikern in der Provinz Hessen-Nassau als typisch verstanden werden kann. Nach anfänglich normabweichendem Verhalten des Kranken und der Krankheitsidentifikation folgte die vorübergehende Aufnahme in eine Heilanstalt, die meist nach kurzer Zeit und Feststellung der Unheilbarkeit die Verlegung in eine Pflegeanstalt beantragte. Dort verstarben schließlich alle Patienten, deren Akten exemplarisch untersucht wurden, an den Folgen ihrer Krankheit. Therapieversuche blieben gänzlich aus. Die ausschließliche Behandlung mit Bettruhe und Schlafmitteln unterstreicht eine gewisse Hilflosigkeit der zeitgenössischen Psychiatrie bei diesem Krankheitsbild. Nachdem erste Behandlungsmethoden auf medikamentöser Basis in der Zwischenkriegszeit aufgekommen waren, sollte die Paralyse den Schrecken alter Tage erst vollumfänglich nach der Einführung des Antibiotikums Penicillin in den 1940er-Jahren verlieren.
Historians on Air
Die extreme Rechte in Kassel
Rechtsextremismus und rechte Gewalt sind im Jahr 2024 weiterhin aktuelle Themen. Aber warum erinnern wir uns als Einzelpersonen bzw. als deutsche Gesellschaft an bestimmte Ereignisse und an andere nicht – und woran und wie sollten wir uns erinnern? Was haben wir möglicherweise unberechtigterweise vergessen oder verdrängt? Darüber sprechen Miriam, Jan und Philipp aus dem Masterstudiengang Geschichte und Öffentlichkeit der Universität Kassel in diesem Podcast-Beitrag.
(Nicht-)Erinnerungen an rechtsextreme Gewalt
von Philipp Misoch
Im Jahr 2012 gibt es in der nordhessischen, aber auch überregionalen Presse einen Aufruhr. Es geht um die Aberkennung eines hessischen Ehrenbriefs für eine Buchhändlerin und deren Verbindung zum Rechtsextremismus. Es ist eine Zeit, in der das Thema Rechtsextremismus eine neue Relevanz erhält. Denn die Beschäftigung mit dem NSU, dem nationalsozialistischen Untergrund, läuft noch bzw. läuft gerade erst so richtig an.
In diesem Podcast erzählt Philipp die Geschichte bzw. Vorgeschichte dieser Buchhändlerin, die bis in die Nachkriegszeit und sogar die Weimarer Republik zurück reicht. Denn dort, wo nun rechtsextreme Literatur vertrieben wird, fand vor und nach dem Zweiten Weltkrieg das Lippoldsberger Dichtertreffen statt. Das Treffen, zu dem in den 1950er Jahren mehrere Tausend Besuchende kamen, wurde ursprünglich von Hans Grimm organisiert – dem Autor des völkischen Romans „Volk ohne Raum“, das die Expansionsideologie der Nationalsozialisten mit prägte.
Nach Grimms Tod führte zunächst seine Tochter das Treffen und den nun dazugehörigen Buchhandel und Verlag weiter fort. Und obwohl das Treffen zum letzten Mal 1981 stattfand, existiert der Buchhandel bis heute und wird von Personen aus dem unmittelbaren Umfeld der Grimms geführt.

BArch Bild 183-S61180 / CC-BY-SA 3.0
Hier anhören:
Als Historiker in die Medien
Interview mit Stefan Raue
Stefan Raue studierte an den Universitäten Freiburg und Bielefeld Geschichte und Germanistik. Nach dem Volontariat führte ihn seine journalistische Arbeit zu einer Vielzahl von unterschiedlichen Stationen u.a. beim WDR, Rias-TV, der deutschen Welle und dem ZDF. Von 2011 bis 2017 war er der erste trimediale Chefredakteur des MDR und seit 2017 ist er Intendant des Deutschlandradios.
Mit Kirsten Bänfer, Sebastian Skutta, Jonas Dittmann und Flemming Menges sprach er darüber, wie ihn das Geschichtsstudium auf die Arbeit in der Presse vorbereitet hat und über gegenwärtige Herausforderungen wie den erstarkten Rechtspopulismus.

Berichte
Erinnern & Verstehen
Exkursion zu deutsch-französischen Erinnerungsorten des Ersten Weltkriegs
von Marlen Wernecke und Jorias Bach
Im Rahmen des Seminars „Der Erste Weltkrieg als deutsch-französischer Erinnerungsort“ waren wir, 22 Studierende der Romanistik und der Geschichtswissenschaft, im Sommersemester 2023 auf Exkursion in Ostfrankreich. Der Fokus des Seminars unter der Leitung von Prof. Dr. Jörg Requate und Julia Spohr lag auf der Frage des Erinnerns an den Ersten Weltkrieg als deutsch-französischen Erinnerungsort, basierend auf Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte.
Nach einigen vorbereitenden Sitzungen und der Betrachtung der verschiedenen nationalen und transnationalen Erinnerungsperspektiven auf den Ersten Weltkrieg fuhr die Seminargruppe Mitte Juni nach Ostfrankreich. Von Verdun über Reims bis nach Metz besuchten wir dort verschiedene Orte und Gedenkstätten des Ersten Weltkriegs. Hierbei konnten wir verschiedene didaktische Ansätze in der Museumsgestaltung und in der Art und Weise, wie an den Ersten Weltkrieg erinnert wird, sehen.
Die ersten drei Tage verbrachten wir in Verdun, dem Sinnbild des Schreckens des Ersten Weltkrieges. Wir besuchten dort einige umliegende ehemalige Schlachtfelder, die Bunkeranlagen von Douaumont und Vaux sowie das kürzlich aufwendig umgestaltete Mémorial. In diesem Museum werden den Besucher:innen mithilfe modernster Technik die Entwicklungen des Ersten Weltkriegs und der Schlacht von Verdun vermittelt. Zwar war die Technik auf dem neusten Stand, jedoch stellten wir fest, dass aufgrund der Breite der Ausstellung auch Abstriche in der inhaltlichen Tiefe gemacht wurden. Eindrücklich war der Blick vom Beinhaus auf den davor liegenden Soldatenfriedhof. Dort ist nicht nur für jeden gefallenen Soldaten, der auf der Seite Frankreichs kämpfte, ein Kreuz bzw. ein Grabstein aufgestellt. Auch im Keller des Beinhauses liegen noch Knochenreste gefallener und unidentifizierter Soldaten.
Ein gänzlich anderes Bild zeigte sich während einer Augmented Reality-Tour, bei der wir in die Haut eines Soldaten im Ersten Weltkrieg schlüpften und exemplarisch die Geschehnisse in der Zitadelle von Verdun erlebten. Hier wurde deutlich, dass Erinnerung auf vielfältige Weise geschehen und ganz unterschiedliche Formen annehmen kann. Auf dem Weg nach Reims legten wir einen Zwischenstopp in Suippes ein. Wir waren uns schnell einig, dass wir den spezifischen Zugang des Museums – den starken Fokus auf die Zivilbevölkerung – äußerst wichtig und gelungen fanden. Weitere Highlights waren am vierten Exkursionstag der Besuch der Drachenhöhle nahe Reims und eine Stadtführung durch Metz am letzten Exkursionstag. Während dieser Stadtführung konnten wir konkret nachvollziehen, wie sich Erinnerung mit der Zeit verändern und entwickeln kann.
Redaktion und Autor:innen dieser Ausgabe

Kirsten Bänfer
Redaktion und Autorin
Kirsten Bänfer studiert im Master Geschichte und Öffentlichkeit und gehört dem Redaktionsteam der G-Öff seit der ersten Stunde an. Zu ihren Forschungs-interessen gehört insbesondere der gewaltvolle Umgang mit Kindern in deutschen Fürsorgeeinrichtungen im 20. Jahrhundert.

Flemming Menges
Redaktion und Autor
Flemming Menges studierte im Master Geschichte und Öffentlichkeit. Er gehört der Gründungsredaktion von G-Öff an. Insbesondere interessieren ihn Polizeigeschichte sowie die Geschichte der Arbeiter:innenbewegung.

Jonas Dittmann
Redaktion
Jonas Dittmann studiert im Master Geschichte und Öffentlichkeit. Seinen Bachelor absolvierte an der Georg-August-Universität Göttingen in Politikwissenschaft sowie Neuerer und Neuster Geschichte.

Philipp Misoch
Autor
Philipp Misoch studiert im Master Geschichte und Öffentlichkeit. Seine Forschungsschwerpunkte sind utopische sowie dystopische Erzählungen/Konzepte und die Aufarbeitung der NS-Zeit in der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem beschäftigt er sich mit der Vermittlung von Geschichte in Audioformaten wie Podcasts.

Marlen Wernecke
Autorin
Marlen Wernecke studiert Französisch, Politik und Wirtschaft und Englisch für das Lehramt an Gymnasien. Ihre Forschungsinteressen umfassen die deutsch-französischen Beziehungen und das politische System Frankreichs.

Jorias Bach
Autor
Jorias Bach studierte an der Universität Kassel im Bachelor Geschichte und Wirtschaftswissenschaften und nun im Master Geschichte und Öffentlichkeit. Anfänglich gehörte er zum Gründungsteam von G-Öff, bis er für ein Auslandssemester nach Madrid ging, um dort unter anderem auch seinem Forschungsschwerpunkt, der Erinnerungskultur und Aufarbeitung der Franco-Vergangenheit, nachzugehen.