„Ich dachte, ich bin in der Hölle!“

Das Mädchenjugendheim Fuldatal

von Kirsten Bänfer

Sie wurden eingesperrt, unterdrückt und misshandelt. Über Tausend Mädchen und junge Frauen waren zwischen 1952 und 1973 im nordhessischen Guxhagen in einem geschlossenen Heim für sogenannte schwer erziehbare Mädchen untergebracht. Dort waren sie einer von Autorität und Zwängen geprägten Erziehung ausgesetzt, dessen Folgen bis heute nachwirken. Denn für die Mädchen und jungen Frauen war es die Hölle auf Erden.

Im Glockenturm der Klosterkirche Breitenau befindet sich ein riesiges Treppenhaus, in dem schier endlos wirkende Treppenstufen mehrere Stockwerke hoch aufeinander folgen. In jedem der Stockwerke finden sich massive Holztüren. Hinter diesen verbergen sich kleine Räume, die noch im Glockenturm selbst liegen. Ein solcher Raum ist etwa vier-mal-vier Meter groß und durch ein kleines Fenster nur spärlich beleuchtet. Durch die Höhe der Decken ist das Fenster stehend nicht zu erreichen. Zusätzlich ist es vergittert. In den Räumen selbst befindet sich neben einem Klobecken und einer Waschschüssel auf einem Hocker nur ein Bett aus Holzbrettern. Darauf liegt keine Matratze, sondern lediglich eine braune Wolldecke mit der Aufschrift „Landesfürsorgeheim Fuldatal“. Bei genauerem Hinsehen sind auf den eigentlich kahlen Wänden Kritzeleien zu erkennen. Namen und Daten, aber auch Bilder und ganze Sätze. „Irgendwann müssen sie mich doch entlassen.“, steht dort geschrieben. Oder: „Die Erzieherinnen sind schlimmer als die Mädchen!“ Die Inschriften in den als „Besinnungszellen“ bekannten Räumen sind Hilferufe ehemaliger Insassinnen des Mädchenjugendheims Fuldatal. Sie bezeugen, was den Mädchen und jungen Frauen in diesem Erziehungsheim widerfahren ist.

Erziehungspraxis im Mädchenjugendheim Fuldatal

„Wer immer in Deutschland dieses Heim kennt, dort war, damit zu tun hatte, davon gehört hat, dem graust, der wird ernst, der sagt nur noch: ‚Ja, ich weiß‘.“ Mit diesen Worten beschreibt Ulrike Meinhof 1969 in einem ihrer Radiofeature das Mädchenjugendheim Fuldatal. Bevor sie als Mitglied der Terrorgruppe „Rote Armee Fraktion“ (RAF) in den Untergrund ging, war sie als Journalistin tätig und berichtete u.a. über die Heimerziehung in Deutschland. Unter dem Titel „Guxhagen – Mädchen in Fürsorgeerziehung“ schildert Meinhof eindrücklich den Alltag und die Erziehungspraxis in dem nordhessischen Erziehungsheim für Mädchen und junge Frauen. Für ihre Recherchen besuchte sie das Heim im 15 Kilometer südlich von Kassel gelegenen Guxhagen und hielt sich zwei Wochen lang dort auf. Währenddessen führte sie Gespräche mit den Mädchen, den Erzieherinnen und der Heimleiterin und bekam so einen Einblick in das tägliche Leben im Heim. Die Mädchen berichteten ihr von ihrem allgemeinen Tagesablauf, den Aufnahmeprozeduren und Besuchsregelungen, der Postkontrolle und Postzensur sowie den Verboten und Strafen. So war es ihnen verboten bei der Arbeit zu reden, sich zu schminken, zu rauchen, zu tanzen und untereinander Freundschaften zu schließen. Wer dagegen verstieß, hatte mit Strafen wie Taschengeldentzug, Fernsehverbot, Brotentzug, Ausgehverbot, Arrest in der „Besinnungszelle“ und Verlängerung der Heimzeit zu rechnen. Meinhof musste feststellen, dass die Insassinnen unterdrückt und nicht nur von ihrer Außenwelt abgeschirmt, sondern auch untereinander vollkommen desozialisiert wurden. Darüber hinaus wurden die Mädchen zur Arbeit gezwungen, erhielten dafür keinerlei Entlohnung und wurden weder schulisch noch beruflich gefördert. In Fuldatal wie auch andernorts wurde dem aus preußischen Arbeitshäusern bekannten Grundsatz der „Erziehung zur Arbeit durch Arbeit“ gefolgt. Dringend benötigte therapeutische Angebote fehlten dabei völlig.

Ehemalige Heiminsassinnen berichten

Heute, knapp 50 Jahre nach Schließung des Heimes, haben sich viele der ehemaligen Insassinnen Fuldatals zu Wort gemeldet. Christa Werner kam mit einer leichten körperlichen Behinderung auf die Welt und wurde deshalb bereits kurz nach ihrer Geburt durch ihre Mutter mit einer Ochsenpeitsche misshandelt. Sie musste häufig ins Krankenhaus und konnte nur selten die Schule besuchen, wodurch sich ihre Entwicklung verzögerte. Zuhause war sie oft unbeaufsichtigt und wurde bei solchen Gelegenheiten von Freunden ihres Vaters sexuell missbraucht. Nachdem den Eltern das Sorgerecht entzogen wurde, folgten für Christa mehrere Stationen in verschiedenen Erziehungsheimen, bevor sie Ende der 1960er-Jahre in Fuldatal eingewiesen wurde. Von ihrer ersten Begegnung mit der Heimleiterin berichtet Christa, welcher Gewalt sie in Fuldatal ab der ersten Minute ausgesetzt war: 

„Sie ging mit mir über einen Hof, in der Hand hatte sie eine schwarze Riemenpeitsche. Sie erinnerte mich an meine Vergangenheit, ich wusste was kommt. Sie führte mich auf eine Krankenstation, ich war ganz allein mit ihr, ich musste mich ganz ausziehen, bis ich nackt vor ihr stand und ohne Vorwarnung schlug sie mit der Peitsche auf meinen Rücken und sagte, das war die Begrüßung und so wird es weitergehen, bis sie aus mir ein anständiges Mädchen gemacht hätte. […] Ich dachte, ich bin in der Hölle.“  

Ähnliche Umstände führten bereits 1956 bei der damals 15-jährigen Monika Rohde zu einer Einweisung in Fuldatal. Ihr Vater gilt als in Stalingrad vermisst. Ihre Mutter hatte Beziehungen mit wechselnden Männern, wobei Monika störte. Sie musste deshalb zu einem Bekannten der Mutter ziehen, der sie vergewaltigte. Nachdem dies bekannt wurde, entschied der Vormundschaftsrichter auf Heimeinweisung. In Fuldatal musste sie gemeinsam mit anderen Insassinnen graue Socken für die Bundeswehr stricken. Manchmal legten die Mädchen kleine Zettel mit einem Hilferuf in die Socken: „Holt uns hier raus!“. Nachdem die Heimleiterin dies entdeckt hatte, gab es „Besinnung im Turmstübchen“. Auch Monika verewigte sich an den Wänden der „Besinnungszelle“. „Irgendetwas Bedrohliches lag in den Räumen“, erzählt sie.

Zur selben Zeit wie Monika war auch Helga Weber in Fuldatal eingesperrt. Über Helga steht in ihrer Akte: „Eine medikamentöse Behandlung bekommt ihr gut.“ Sie weiß bis heute nicht, was für „Beruhigungsmittel“ ihr während ihrer Zeit in Fuldatal verabreicht wurden. Viele Jahre später schrieb sie einen Brief an den Landeswohlfahrtsverband Hessen als Träger der Einrichtung und schildert darin die erlittenen Ängste:

„Am schlimmsten fiel mich die Angst an, wenn die Türen abgeschlossen wurden. Die Eingangstür, die Tür zur Gruppe und die Schlafzimmertür. Mit fünf Mädchen in einem Zimmer und keine Griffe an den Fenstern. Alles dicht und zu. Ein Nachttopf für fünf Mädchen und jedes schämte sich.“

In den überlieferten Unterlagen der mittlerweile verstorbenen damaligen Heimleiterin Ingeborg Jungermann steht von all dem kein Wort. In einem Bericht an den Landeswohlfahrtsverband verschweigt sie die „Besinnungszellen“. Stattdessen erzählt sie stolz von den auf ihr Bestreben umgesetzten Umbaumaßnahmen. Sie schließt mit dem Eigenlob: „Ob im Regen, ob im Nebel oder im Sonnenschein – immer ist es schön im Jugendheim Fuldatal“.

Aufarbeitungsversuche und Folgen der Heimerziehung

Von 1949 bis 1975 lebten und arbeiteten deutschlandweit zwischen 700.000 und 800.000 Kinder und Jugendliche in rund 3.000 Erziehungsheimen. Mittlerweile ist vielfach belegt, welcher von Gewalt geprägten Erziehung Kinder und Jugendliche in diesen Heimen insbesondere während der 1950er- und 1960er-Jahre ausgesetzt waren. Dazu trugen vor allem die bisherigen Aufarbeitungsverfahren und historischen Studien bei. Heute ist bekannt, dass gewalttätige und demütigende Übergriffe, Arbeitszwang aus wirtschaftlichen und nicht aus therapeutischen Gründen, das Vorenthalten einer schulischen oder beruflichen Ausbildung sowie nicht zuletzt sexueller Missbrauch zum Alltag vieler Heimkinder gehörten. Die im Mädchenjugendheim Fuldatal praktizierte Erziehung spiegelt all dies wider. Fuldatal bildet damit nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Den Anstoß, sich in der Öffentlichkeit mit den Schicksalen ehemaliger Heimkinder näher zu beschäftigen, gaben seit 2004 die Petitionen ehemaliger Heimkinder an den Deutschen Bundestag. Die Betroffenen forderten erstmals eine grundsätzliche Entschädigung. Grund dafür waren Versorgungslücken bei der Altersrente der zu diesem Zeitpunkt über 60-Jährigen, da die Erziehungsheime trotz täglicher Arbeitsleistung ihren Insassen keine Sozialversicherungsbeiträge entrichtet hatten. Große öffentliche Resonanz fand außerdem das 2006 von dem Spiegel-Autor Peter Wensierski veröffentlichte Werk „Schläge im Namen des Herrn. Die Verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“. In dem Buch werden eindrücklich Einzelschicksale ehemaliger Heimkinder dargestellt. Eines der Kapitel thematisiert auch die Erfahrungen und Schicksale zweier Frauen, die im Mädchenjugendheim Fuldatal untergebracht waren. Auf Empfehlung aller Bundestagsfraktionen richtete der Deutsche Bundestag Ende des Jahres 2008 einen „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ ein, dessen Aufgabe es war, eine erste Analyse der Geschehnisse unter den damaligen rechtlichen, pädagogischen und sozialen Bedingungen vorzunehmen. Der Abschlussbericht wurde zwei Jahre später vorgelegt. Darin heißt es:

„Wenn auch nicht in allen, so herrschten doch in vielen Heimen in den 50er und 60er Jahren repressive und restriktive Erziehungsmethoden. Der Gedanke war weit verbreitet, dass Kinder generell, aber insbesondere gefährdete Kinder und Jugendliche, durch Härte, Zucht und Ordnung erst zu vollwertigen Menschen erzogen werden müssen.“  

An den Folgen dieser von Härte, Zucht und Ordnung geprägten Erziehung leiden viele ehemalige Heimkinder noch heute. Christa Werner ist bis heute in psychologischer Behandlung und hat zwei Suizidversuche unternommen. Und ihre Geschichte zeigt auch, dass das Erlittene nicht nur Auswirkungen auf ihr Schicksal hatte. Noch während ihrer Zeit im Erziehungsheim brachte sie ihren Sohn Stefan auf die Welt. Nachdem ihr das Sorgerecht für ihn entzogen wurde, durchlief auch er verschiedene Stationen in deutschen Erziehungsheimen. Da er ohne Familie aufwuchs, leidet er unter Verlustängsten und konnte bis heute kein Vertrauen zu seiner Mutter fassen. Stefan wurde zum Sozialfall, musste aufgrund von Drogenbesitzes und Beschaffungskriminalität mehrere Jahre im Gefängnis verbringen. Auch er hat bereits einen Suizidversuch unternommen. Der Buchautor Peter Wensierski schreibt dazu:

„Was damals als billige Entsorgung von Störenfrieden funktionierte, kommt die Gesellschaft bis heute teuer zu stehen. Hunderttausende von sozialen Problemfällen wurden nicht gelöst, sondern in den Heimen erst produziert.“

Nach einer Erkenntnis der modernen Trauma-Forschung sind Opfer in der Regel erst drei oder vier Jahrzehnte nach der erlittenen Traumatisierung dazu in der Lage, über das Erlebte zu sprechen. Viele haben die Erinnerungen verdrängt, um überhaupt weiterleben zu können. Hilfe bekommen die Opfer vom „Verein ehemaliger Heimkinder“, der die Betroffenen bei deren Forderungen nach Entschädigung unterstützt. Dabei geht es jedoch nur vordergründig um Geld oder gute Worte. Viel wichtiger ist der berechtigte Wunsch der Opfer, dass das erfahrene Leid endlich anerkannt wird. Ihre Erlebnisse sollen nicht mit dem Hinweis auf die damals übliche Erziehungspraxis bagatellisiert werden.

Obwohl eine Reihe kritischer Beiträge über das Mädchenjugendheim Fuldatal existieren – darunter nicht zuletzt auch das Radiofeature von Ulrike Meinhof – erfolgte bis heute keine vollständige Aufarbeitung der Geschehnisse im dortigen Erziehungsheim. Die Betroffenen können im Archiv des Landeswohlfahrtsverbands zwar ihre eigenen Akten einsehen, der Verband verweigert sich aber noch immer einer Einsicht und Auswertung der insgesamt überlieferten Akten von unabhängiger Stelle. Trotz des in Fuldatal Erlittenen, schafften einige der ehemaligen Heiminsassinnen dennoch den Sprung in ein bürgerliches Leben. Dies gelang den jungen Frauen nicht zuletzt, weil sie den vor der Heimeinweisung eingeschlagenen Weg weiterverfolgten und beispielsweise US-Soldaten heirateten, mit denen ihnen der Umgang zuvor verboten war. Die Betroffenen schafften diese Erfolge nicht aufgrund, sondern vor allem trotz der erlittenen Heimerziehung im Mädchenjugendheim Fuldatal.


Kirsten Bänfer

Kirsten Bänfer studiert im Master Geschichte und Öffentlichkeit und gehört dem Redaktionsteam der G-Öff seit der ersten Stunde an. Zu ihren Forschungsinteressen gehört insbesondere der gewaltvolle Umgang mit Kindern in deutschen Fürsorgeeinrichtungen im 20. Jahrhundert.